72. Artikel Winter 1972

„Wir und unsere neuen Freunde!“

Es ist Mode geworden, die Methoden der technischen Zivilisation in Zweifel zu ziehen und nach neuen Methoden zu suchen. Aber das, was man vor 30 oder 40 Jahren hätte überlegen sollen, ist inzwischen zur schier unlösbaren Aufgabe geworden. Die Menschen haben sich an alles das gewöhnt, was ihnen schadet, ans Auto, an die Ölheizungen, an die Fronarbeit der Industrie, an die Schlaf- und Weckmittel, an die Beruhigungspillen und die trügerische Wirkung der Antibiotika, an die industrialisierte Nahrung, an Kunstdünger, Spritzmittel und Unkrauthormone – an die ganze, hoch organisierte und technisierte Welt, die das Leben zu erleichtern verspricht und die Menschheit doch offensichtlich ins Verderben führt.
Jeder weiß es, und keiner handelt danach. Da werden die Gehälter und Löhne erhöht, man gibt den Menschen mehr Geld als je zuvor, und was tun sie? Sie kaufen Autos und rasen damit herum. Sie kaufen Fernseher und stehlen sich die Zeit, die sie nicht mehr haben. Sie sind ohne Rast und Ruh‘ und nehmen Beruhigungspillen und Schlafmittel, und wenn sie eine Grippe bekommen, dann gehen sie um schnelle Kunsthilfe; denn sie haben alles, nur eins nicht: Zeit. Für sie gibt es sonntags keinen besinnlichen Waldspaziergang mehr, keinen ruhigen Feierabend, kein stilles Glück, kein dankbares Händefalten, nichts, was das Leben erst lebenswert macht. Sie laufen vor sich selbst davon, statt großer und guter Liebe haben sie Erotik, Zügellosigkeit, Rauschgift, und statt echter Menschheits-Ideale haben sie revolutionäre Hetzparolen und steigende Kriminalität. Sie haben alles – aber sie haben sich selbst verloren. Wer die Welt verbessern will, der muss aber bei sich selbst anfangen.
Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ So steht es im „Buch der Bücher“. Und es steht darin: „Wen der Herr vernichten will, den schlägt er mit Blindheit.“ Als die Menschen von weither zusammenkamen, um den Turm zu Babel zu bauen, da verwirrte der Herr ihre Sprache, sodass sie einander nicht mehr verstanden. „Am Golde hängt, nach Golde drängt doch alles – ach, wir Armen!“ sagte Goethe.
Der Mensch hat die Welt gewonnen, mit einer seelenlosen Technik. Das Leben der Menschen ist manipuliert, organisiert und materialisiert. Wenn wir leben wollen, so sagen die Manipulatoren, dann muss das Bruttosozialprodukt alljährlich ansteigen; also werden immer neue Fabriken gebaut, immer mehr Apparaturen erdachte; ihre größte Sorge ist die Vermehrung materieller Güter. Zur Krankheitsbehandlung macht man die Diagnose in Mayo-Kliniken mit seelenlosen Apparaturen, die Therapie mit leblosen, synthetischen, chemischen Produkten einer Großindustrie. Die Landwirtschaft wird zur Fabrik, zum Großbetrieb, in dem am laufenden Band „Nahrungsproduktion“ gemacht wird, künstlich getrieben, mit Giften zur Ernte gebracht und mit Unkrautchemikalien gesäubert.
Es ist alles wohlgeordnet, alles bestens organisiert; es ist alles manipuliert, was sich manipulieren lässt, auch die Menschen. Sie fügen sich, denn es bleibt ihnen ja nichts anderes übrig. Menschen-Bildung ist heutzutage kaum noch etwas anderes als die Bemühung, ihnen beizubringen, wie man diese riesenhafte Apparatur der Zivilisation bedient, und dazu eignet sich ein geist- und seelenloses Wesen am besten. Wer nachdenkt, ist unbequem und störend, das Denken überlässt man am besten dem Computer. In dieser technischen Welt gibt es nur noch das „reale, rationale Denken“, etwas anderes kann man nicht brauchen. Der Mensch in seiner Ganzheit als geistiges und seelisches Wesen eignet sich nicht zur Bedienung einer seelenlosen Maschinerie. Folgerichtig sollen nun schon die Kleinkinder in ihrem Sinne zum rationalen „Denken“ erzogen werden – im Kindergarten.
Von solchen „Ideen“ sind die Manager des modernen Lebens besessen, alle anderen sind ihre Sklaven; sie merken es nur nicht mehr, sie haben sich daran gewöhnt, sie müssen es, wenn sie das nackte Leben behalten wollen. Das Volk braucht „Brot und Spiele“, sagte ein römischer Kaiser, also gibt man sie ihm: Fußball, Toto, Lotto, Fernsehen, Autofahren, Sport en gros: dann merkt es nicht mehr, dass es um das wahre Glück, um die ewige Seligkeit, um die edelsten Güter der menschlichen Kultur betrogen wird, dass es um sich selbst betrogen wird und zum seelen- und geistlosen Wesen herabsinkt. Die wirklichen Herren dieser Scheinwelt triumphieren, das System funktioniert.
Die menschliche Kultur aber, das Beste, was wir Menschen haben, siecht dahin. Die Werte verfallen, die die Welt zusammenhalten: Familie, Treue, Glauben, Ehrfurcht, Tradition. Wer „Freiheit“ sagt, meint heute „Zügellosigkeit“. Mit der unechten Autorität schwindet auch die echte. „Anti-autoritär“ muss man sein, sonst ist man rückständig. Die geistigen und seelischen Bindungen des Menschen an sich selbst, an seine Mitmenschen und seine Ahnen, an seine kulturelle Tradition – sie werden nicht mehr gebraucht und sie beginnen, sich aufzulösen. Wo die Jugend danach sucht, findet sie nichts mehr als Leere, Hohlheit und Lüge; wie sollte sie nicht zweifeln an allem, was heutzutage besteht?
Diese einseitige, materielle, technische Zivilisation trägt den Keim des Unterganges in sich. Sie ist von dieser Welt: „Gott ist tot!“ In Wahrheit sind die Manager am Ende, der Betrug am Menschen, an seinem Geist und seiner Seele wird allmählich offenbar. Es gab immer auch noch Menschen, die der einzig gültigen Wahrheit gedient haben – nicht mit großen Worten und papiernen Programmen, sondern mit der rettenden Tat. Es gab immer viele, lebendige Beispiele dafür, wie die Zukunft der Menschen gestaltet werden muss. Ihnen allen ist gemeinsam der Glaube an eine höhere Macht, an eine höhere Weisheit, an die Einheit des Lebendigen auf Erden, an das Gut im Menschen, der Glaube an die menschliche Kultur und ihre Verpflichtung. Diesen Menschen wird die Zukunft gehören, oder es wird keine Menschen mehr geben. Sie sind unsere einzige Hoffnung auf Zukunft. Ihre Werke müssen bewahrt werden, bis die Menschen wieder zu sich selbst gefunden haben und sich abwenden von der Scheinwelt der technischen Zivilisation. Bis dahin bleibt noch viel zu tun.
Rusch beschreibt hier in treffender Weise den Zustand der Welt, wie er ihn in seiner Zeit erlebte, wie er aber nach wie vor sich bis heute in den gleichen Zuständen abspielt: darum hat sich nichts geändert. Was sich aber geändert hat, sind die Dimensionen des biologischen Landbaues, der immer stärker werdende Ruf der Menschen nach naturbelassener Nahrung, erzeugt ohne Gift und Kunstdünger. Es wird akzeptiert, dass der biologische Landbau heute kein Lückenfüller mehr ist, sondern ein gewichtiges Wort in der Nahrungsmittelversorgung mitzureden hat. Es wird akzeptiert, dass die Biobauern wieder echte Bauern geworden sind, mit der Sorge um einen lebendigen Boden als ihr höchstes Gut. Die neuen Freunde vor denen Rusch warnte, waren Vertreter des konventionellen Landbaues in Versuchsanstalten und Hochschulen, sowie der Kunstdüngerindustrie, die dem biologischen Landbau die Zusammenarbeit angeboten hatten.
Nachdem aber gewusst wurde, dass jede Verschmelzung der Methoden, jede noch so kleine Kunstdüngergabe im biologischen Landbau ein Unding ist, wurde dieses Angebot abgelehnt. Was aber in der heutigen Zeit (ab 2000) Platz greift, ist ein zunehmendes, ernsthaftes Interesse von konventionellen Bauern am Biolandbau, was in einem steigenden Besuch der Bodenpraktikerseminare des Biolandbaues zum Ausdruck kommt. Auf die Frage warum sie diese Kurse besuchen, lautet die Antwort fast immer: „Wir wollen vom Boden etwas erfahren, da wir davon sonst nichts erfahren.“ Solche Freunde sind willkommen und wären es auch von Rusch gewesen.

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